Arbeitsunfall: ja oder nein?

Abgrenzung im Einzelfall schwierig

Nicht immer erleidet jemand, der bei der Arbeit verunglückt – gleichgültig, ob Selbstständiger oder Arbeitnehmer – einen Arbeitsunfall. Die zuständige Berufsgenossenschaft und die Sozialgerichte sind hier oft ganz anderer Ansicht als der Verunglückte, was von nicht geringer Bedeutung für den Versicherungsschutz ist.

Ein Arbeitsunfall ist laut Sozialgesetzbuch VII definiert als „ein während der Ausübung einer versicherten Tätigkeit zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt“. Sind mit dieser Definition nun alle Unklarheiten beseitigt? Keineswegs!

Versicherungsschutz und Haftung

Alle Arbeitnehmer in einem Betrieb sind automatisch in der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) versichert. Welche Berufsgenossenschaft (BG) jeweils zuständig ist, ergibt sich aus der Branchenzugehörigkeit des Betriebes, in dem sie tätig sind. Bei einem Arbeitsunfall darf, sofern ein Anspruch aus der GUV besteht, die Krankenkasse keine Leistungen erbringen. Aufwendungen, die von der GKV nicht abgedeckt werden, sind entsprechend über die persönliche Krankenversicherung (PKV) versichert, die auch, sofern mitversichert, Krankengeld und Krankenhaustagegeld gewährt.

Ist auch der Selbstständige in der GUV versichert? Hier überlässt der Gesetzgeber der zugehörigen BG die Entscheidung, ob der Selbstständige bei ihr pflichtversichert ist oder sich freiwillig versichern kann. Die Satzung gibt hierüber Auskunft. Das gilt auch für unternehmerisch tätige Personen (z.B. als Geschäftsführer tätige GmbH-Gesellschafter).

Für den Selbstständigen ist bedeutsam, dass er seine Unternehmerhaftpflicht für Arbeitsunfälle, Gesundheitsschäden und Berufskrankheiten ablösen kann und dann nicht mehr zum Schadenersatz verpflichtet ist. Gegen eine entsprechende Beitragszahlung übernimmt die BG die Haftung. Auch Mitarbeiter untereinander sind von der Haftung freigestellt, was den Betriebsfrieden sichert und einem reibungslosen Arbeitsablauf dient.

Arbeitsunfall oder „nur“ Unfall bei der Arbeit?

Unfälle, die vermeintlich durch betriebliche Aktionen ausgelöst wurden, werden nicht selten von der BG zurückgewiesen. Das führt dann häufig zu zeit- und nervenraubenden gerichtlichen Auseinandersetzungen. Im Folgenden einige Beispiele, die gerichtlich entschieden wurden:

Unfall in der Abfüllhalle: Einem Schlosser wurde in der Abfüllhalle seines Betriebes plötzlich schwindelig. Er fiel zu Boden, schlug mit dem Kopf auf, erlitt eine große Platzwunde an der Stirn und seine Gleitsichtbrille zerbrach. Die BG lehnte die Kostenübernahme ab mit der Begründung, dass für den Unfall keine betrieblichen Umstände verantwortlich waren und eine betriebliche Risikoerhöhung (z.B. besonders rutschiger oder unebener Hallenboden) nicht vorgelegen hätte.

Auch einem Arbeitskollegen, der in der Halle auf einer Leiter stand, wurde schwindelig. Er fiel zu Boden, schlug sich dabei einen Zahn aus und zerbrach ebenfalls seine Brille. Hier entschädigte die BG die Zahnbehandlung und die Brille. Begründung: Ein betriebliches Gefahrenmoment (das Stehen auf der Leiter) hat den Unfall mit verursacht.

Tätlichkeiten während der Arbeit: Eine Auseinandersetzung am Arbeitsplatz, die zu Tätlichkeiten ausartet und Verletzungen nach sich zieht, wurde als Arbeitsunfall anerkannt, weil sie aus der betrieblichen Tätigkeit heraus entstanden war (Streit um Handwerkszeug). Kein Versicherungsschutz besteht, wenn es beim Streit um private Belange geht.

Überschreiten der Arbeitszeit: Wenn der Arbeitnehmer über die tägliche Höchstarbeitszeit hinaus tätig ist und in dieser Phase einen Unfall erleidet, besteht Versicherungsschutz, wenn er zum Unfallzeitpunkt Tätigkeiten ausgeführt hat, die dem Betrieb dienen.

Arbeitspause: Zwischen Beschäftigungsverhältnis und Arbeitspause besteht ein enger Zusammenhang. Deswegen ist man während der Arbeitspause gegen die mit dem Betrieb zusammenhängenden Gefahren versichert, auch wenn man sich rein privaten Tätigkeiten widmet. Immer? Leider nein! Wenn man außerhalb des Betriebsgeländes spazieren geht, wird es kompliziert. Versicherungsschutz besteht nur dann, wenn der Spaziergang die „Weiterarbeit sichert und dem betrieblichen Interesse dient“. Beispiel: Ein Chemiearbeiter, der in schlechter, die Atemwege belastender Luft arbeitet, macht in der Pause Spaziergänge in einem nahen Wald.

Trunkenheit am Arbeitsplatz/auf dem Arbeitsweg: Versicherungsschutz besteht nur, wenn versicherte Tätigkeiten ausgeübt werden und lediglich leichte Trunkenheit besteht. Bei Volltrunkenheit entfällt der Schutz, ebenso bei Tätigkeiten, die mit der Trunkenheit in keinem direkten Zusammenhang stehen. Bei „sonstiger Trunkenheit“ ist generell zu prüfen, ob die Trunkenheit alleinige Ursache des Unfalls war. In diesem Falle besteht kein Versicherungsschutz.

Rauchen: Rauchen ist grundsätzlich eine unversicherte Tätigkeit. Verletzt sich jemand während der Raucherpause, so ist er mithin über die gesetzliche Unfallversicherung nicht abgesichert.

Es gibt – um die Unklarheit zu vertiefen – durchaus auch Unfälle, die auf vermeintlich privaten Aktionen beruhen und von denen der nicht so Sachkundige annehmen würde, dass sie vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind. Darauf weist der Mitarbeiter der BG Nahrungsmittel und Gastgewerbe, Hartmut Rudat aus Hartenholf, hin.

Weihnachtsfeier: In vielen Betrieben ist die gemeinsame Weihnachtsfeier des Chefs mit seinen Mitarbeitern – ob im Betrieb oder in einem Restaurant – langjährige Tradition. Wenn es hier zu einem Unfall kommt, so besteht Versicherungsschutz unter folgenden Voraussetzungen:

Die Feier – das gilt auch für Betriebsfeiern aller Art – muss von der Firmenleitung gebilligt und gefördert werden und

der Chef oder sein Beauftragter muss an der Feier teilnehmen.

Begründung: Derartige Veranstaltungen, zu denen auch andere betriebliche Gemeinschaftsaktionen (z.B. Kegeln oder Bowling) gehören, gelten der Förderung des Gemeinschaftssinns. Merke: Angehörige und Gäste, die an solchen Feiern teilnehmen, sind nicht über die BG abgesichert.

So wird geprüft

Dr. Thomas Flint, Präsidialrichter am Landessozialgericht Hamburg: „Bei den der Sozialgerichtsbarkeit zur Entscheidung vorgelegten Fällen wird zunächst geprüft, ob eindeutig kein Arbeitsunfall vorliegt. Das ist der Fall, wenn Auslöser des Unfalls eine innere Ursache ist, wenn betriebsbedingte Gefahrenmomente nicht vorliegen und die innere Ursache nicht durch besondere betriebliche Umstände beeinflusst wird.“ Damit sind die Prüfmaßstäbe vorgegeben.

Innere Ursache

Der Unfallauslöser hat eine innere Ursache, wie z.B. einen Schwindelanfall, eine Erkrankung oder einen Infarkt. Hier liegt kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und der versicherten Tätigkeit vor. Die körperliche Ursache hat zwangsläufig zu dem eingetretenen Unfallverlauf geführt. Wenn eine solche außerberufliche innere Ursache mit Gewissheit (!) feststeht, ist die Anerkennung als Arbeitsunfall nicht ausgeschlossen.

Betriebliche Umstände

Wenn unzweifelhaft innere Ursachen für den Arbeitsunfall vorliegen, prüfen BG bzw. Sozialgericht weiterhin, ob betriebliche Umstände eine Rolle spielten und wenn ja, welchen Stellenwert sie hatten. Diese Umstände können beispielsweise Überanstrengung, Arbeit bei drückender Hitze oder in extremer räumlicher Enge sein. Wenn derartige Umstände nachgewiesen sind, ist der Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Betriebliche Gefahrenmomente

Waren bei einem Unfall aufgrund innerer Ursache keine betrieblichen Umstände mit im Spiel, wird geprüft, ob ggf. betriebsbedingte Gefahrenmomente den Ausschlag für die Anerkennung als Arbeitsunfall geben können. Hierzu muss der Verletzte der Gefahr, die zum Unfall geführt hat, wegen seiner betriebsbedingten Anwesenheit auf der Unfallstelle ausgesetzt gewesen sein. Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalles.

Beispiele: Ein Taxifahrer wird während der Fahrt ohnmächtig und verunglückt tödlich. Hier spielte die mitwirkende Gefahr des Straßenverkehrs die entscheidende Rolle.

Ein Maschinenführer erlitt einen Schwächeanfall und geriet mit dem Arm in die laufende Maschine. Auch dieser Unfall ist ein Arbeitsunfall, denn die Maschine stellt eine Gefahrenerhöhung dar.

Dass damit die Unklarheiten und Streitigkeiten bezüglich der Anerkennung als Arbeitsunfall noch längst nicht ausgeräumt sind, zeigen die Klagen vor dem Sozialgericht. Renate Holst, Direktorin des Sozialgerichts Bremen, weist darauf hin, dass es hier nicht nur um die Anerkennung als Arbeitsunfall geht, sondern auch um die Einstufung der Erwerbsunfähigkeit und die Anerkennung als Berufskrankheit als Folge betrieblicher Unfälle.

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